Geht das?
Gesund leben - gesund altern
Südtirol bekommt immer mehr graue Haare. Laut Landesinstitut für Statistik, kurz Astat, leben aktuell 105.000 Menschen über 65 Jahren in Südtirol, das sind fast 20 Prozent der Bevölkerung. Der große Sprung steht noch bevor: Für 2034 prognostiziert das Astat 150.000 Seniorinnen und Senioren in Südtirol. Die letzten Lebensjahrzehnte gesund, fit und selbstbestimmt zu verbringen, dies wünschen sich dabei alle. Mit zunehmendem Alter steigt allerdings das Risiko für eine Demenz-Erkrankung, vor allem für Alzheimer. Trotz der weltweiten Dimensionen der Krankheit – man rechnet mit etwa 50 Millionen Erkrankten, Tendenz steigend – befindet sich die Forschung seit Jahrzehnten in einer therapeutischen Sackgasse. Darum wird das Thema Prävention immer wichtiger. Alzheimer vorbeugen – Geht das? Diese Frage beantworteten – am Welt-Alzheimertag– Expertinnen und Experten im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Forum Gesundheit Südtirol“ im Meraner Stadttheater.
„Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen auf ein langes Leben hoffen können“, erklärte Dr. Christian Wenter, Primar der Geriatrie am Krankenhaus Meran. Damit steige allerdings auch das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. „Denn Risikofaktor Nummer 1 für den schleichenden Verfall kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten ist das Alter“, so Wenter. Vor dem 60. Lebensjahr sind nur sehr wenige Prozent der Bevölkerung von Alzheimer oder anderen Demenz-Erkrankungen betroffen; zwischen 65 und 85 Jahren steigt die Anzahl der Betroffenen exponentiell auf bis zu 25 und mehr Prozent an, dann flacht die Kurve ab. Die gute Nachricht: Wer fit das ganz hohe Alter erreicht, hat die Chance, bis 100 und darüber nicht an Alzheimer zu erkranken. Derzeit leiden etwa 13.000 Südtirolerinnen und Südtiroler an einer Demenz, der Großteil davon an einer Alzheimer-Erkrankung; mit etwa 1.000 Neuerkrankungen im Jahr muss gerechnet werden.
Weltweit laufen aktuell im Bereich der Demenz-Erkrankungen – Erscheinungsformen sind unter anderem Alzheimer-Demenz, Vaskuläre Demenz, Lewy-Körperchen-Demenz und Frontotemporale Demenz – zahlreiche Studien zu neuen Behandlungsansätzen. „Die Medizin hat es geschafft, Ursachen und Krankheitsentwicklung besser zu verstehen und schneller Diagnosen zu stellen“, sagte Dr. Wenter. „Doch Medikamente, die Schädigungen im Gehirn wieder rückgängig machen, wird es in absehbarer Zeit keine geben.“ Die Forschung habe außerdem gezeigt, dass das Absterben von Nervenzellen bereits Jahrzehnte vor dem Auftauchen der ersten Symptome beginnt. „Die sogenannte präklinische Phase kann bis zu drei Jahrzehnte dauern“, erklärte Dr. Wenter. „Zum Zeitpunkt der Diagnose sind dann in der Regel bereits ausgedehnte neuropathologische Veränderungen vorhanden.“
Dr. Christian Wenter ist davon überzeugt, dass man mit der richtigen Prävention gesunde Jahre gewinnen und im Krankheitsfall Lebensqualität erreichen kann. „Unvermeidbare Faktoren wie die extrem seltene familiäre Veranlagung, das Alter oder Vorerkrankungen können zwar nicht beeinflusst werden, doch es ist selten nur ein Faktor allein, der eine Demenz-Erkrankung auslöst“, so der Arzt.
Also wie kann man das persönliche Demenz-Risiko minimieren? Die Wissenschaft hat folgende Faktoren ermittelt: Rauchen (auch passives Rauchen), Alkoholkonsum, Luftverschmutzung, geringe Bildung (vor allem in den ersten beiden Lebensjahrzehnten, in denen Reservekapazität für das ganze Leben angelegt wird), schlechter Schlaf (unter 7 Stunden und mit Unterbrechungen), größere oder regelmäßige kleinere Schädel-Hirn-Traumata etwa beim Kopfballspiel, Hörverlust, Inaktivität und Bewegungsmangel (4.800 Schritte am Tag reichen schon aus, um das Demenzrisiko zu senken), Einsamkeit (jede dritte Frau über 80 lebt in Südtirol alleine) und Depression. Dr. Wenter: „All diese Faktoren bewusst positiv zu beeinflussen, lohnt sich – unabhängig vom aktuellen Alter. 40 Prozent aller Demenz-Fälle könnten durch die Beachtung gesunder Lebensstilfaktoren vermieden oder um Jahre verzögert werden. Je früher man damit beginnen, desto besser. Aber es ist nie zu spät! Auch Personen, die bereits an Alzheimer leiden, sollten ihren Lebensstil ändern. Die richtige Lebensweise kann auch eine Demenzentwicklung verlangsamen. Denn eines muss klar sein: Das Leben hört mit der Diagnose nicht auf, es können noch 15 bis 20 Jahre mit der Krankheit in verschiedenen Stadien folgen.“
„Leben mit der Krankheit“ stellte eines der Stichworte für das Referat von Miriam Piva, Pflegekoordinatorin der Geriatrie am Krankenhaus Bozen, dar, die aus ihrem Berufsalltag erzählte. „Alzheimer manifestiert sich durch mehrere kognitive Symptome und Verhaltensauffälligkeiten, etwa Störungen im Kurzzeitgedächtnis, Schwierigkeiten, Gesprächen zu folgen, Objekte wiederzuerkennen oder die richtigen Worte zu finden, Probleme bei einfachen Alltagsaufgaben. Später folgen tiefgreifende Veränderungen im Verhalten und in der Persönlichkeit des Patienten: Unruhe und Nervosität, Halluzinationen und Misstrauen, Gereiztheit, Nervosität, Appetitlosigkeit und aggressive Ausbrüche. Manche laufen rastlos in der Wohnung umher oder versuchen, wegzulaufen. Durch das gestörte Zeitgefühl gerät der Schlaf-Wach-Rhythmus oft durcheinander.“
Viele Patienten und pflegende Angehörige sind in diesen Phasen auf sich selbst gestellt. „Alzheimer ist leider noch immer ein Stigma, das mit dem Horrorszenario ,Totales Verlöschen des Geistes‘ einhergeht“, so Piva. „Die Isolierung der Erkrankten gehört dabei zu den größten Problemen. Dem gegenüber steht das Konzept der ,Dementia friendly‘ (demenzfreundlichen)-Gesellschaft.“ Was bedeutet das? Piva: „Dabei handelt es sich um ein weitreichendes kulturelles Konzept, das Länder, Städte und Dörfer umfasst und die Selbstständigkeit für Menschen mit Demenz fördert und verlängern kann. Menschen mit der Diagnose Alzheimer werden nicht ausgegrenzt. Es geht vielmehr darum, Orte und Netzwerke zu schaffen, in denen Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen verstanden, respektiert und unterstützt werden. In denen sie Teil des gesellschaftlichen Lebens sind. Etwa durch ,demenzfreundliche‘ Supermärkte oder Bushaltestellen.“ Oder es werden Parks, öffentliche Gebäude und Straßen so gebaut, dass sich Menschen mit Demenz einfacher zurechtfinden können, und Informationsveranstaltungen organisiert, in denen die Bevölkerung lernt, wie man mit einer Person mit einer demenziellen Beeinträchtigung richtig umgeht. Ziel ist es, dass Alzheimer-Kranke so lange wie möglich ein eigenständiges Leben führen können. Einige Ansätze zu diesem Konzept gibt es bereits in Europa.
„Mit dieser Veranstaltung war es uns wichtig“, sagte Florian Zerzer, Generaldirektor des Südtiroler Gesundheitsbetriebes nach zwei intensiven Stunden, „aufzuzeigen, dass man gegen Alzheimer & Co. vorbeugen, das Krankheitsbild aktiv bekämpfen und dem langen Leben mehr Qualität geben kann.“ Der Appell ans Publikum: „Tragen Sie diese Botschaft hinaus, und vor allem sprechen Sie offen über Alzheimer und Demenz, damit es nicht länger ein Tabuthema bleibt.“
Eingeleitet worden war der Abend im Stadttheater, durch den Moderatorin Sabina Frei führte, von der berührenden Lesung von Edith Moroder, Vizepräsidentin des Vereins „Alzheimer Südtirol Alto Adige“ und Autorin des Buches „Im Treibsand – Leben mit Demenz“ (Athesia Tappeiner 2006).
Bei Expertinnen und Experten nachgefragt
Im Anschluss an die Referate der Expertinnen und des Experten konnten die Zuhörerinnen und Zuhörer Fragen stellen. Bei der Veranstaltung im Meraner Stadttheater wurden zum Thema „Alzheimer vorbeugen – Geht das?“ unter anderem folgende Fragen gestellt:
Wäre ein Alzheimer-Screening der Südtiroler Bevölkerung sinnvoll?
Dr. Christian Wenter, Primar der Geriatrie am Krankenhaus Meran: Weltweit wird davon abgeraten. Die Symptome von Demenzerkrankungen sind am Anfang zu unterschiedlich, das Screening würde zu oft „falsch Positive“ melden.
In welchem Alter sollte man sich erstmals auf Alzheimer untersuchen lassen?
Dr. Christian Wenter: Von einer präklinischen Diagnostik wird grundsätzlich abgeraten. Viel wichtiger ist es, das persönliche Demenz-Risiko durch einen entsprechenden Lebensstil aktiv zu beeinflussen. Wenn allerdings erste Auffälligkeiten auftreten, muss man schnell reagieren.
Wohin wendet man sich, wenn man befürchtet, an Alzheimer erkrankt zu sein?
Miriam Piva, Pflegekoordinatorin der Geriatrie am Krankenhaus Bozen: Wer an sich beispielsweise Vergesslichkeit, Orientierungsprobleme und Wortfindungsstörungen erkennt, wer Schwierigkeiten bei Planung und Informationsverarbeitung hat und immer mehr soziale Kontakte meidet, wendet sich zunächst an die Hausärztin oder den Hausarzt. Diese/dieser überweist den Betroffenen an eine Memory Clinic. Hier klärt ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Neurologen, Neuropsychologen, Ergotherapeuten, Krankenpflegern und Sozialassistenten, den Zustand des Patienten ab. Diese Fachleute begleiten den Betroffenen und dessen Angehörige durch Diagnose, Therapie und Betreuung.
Meine Eltern erkrankten beide an Alzheimer. Habe ich also ein erhöhtes Risiko für diese Krankheit?
Dr. Christian Wenter: Ein etwas erhöhtes Risiko, ja. Aber im Grunde nimmt der Lebensstil weitaus mehr Einfluss auf das Auftreten einer Demenz als die Gene.
Ich leide unter Schlafproblemen, die mein Demenz-Risiko erhöhen können. Soll ich zu Medikamenten greifen?
Dr. Christian Wenter: Schlafmittel sind, meiner Meinung nach, keine Lösung. Wenn man über Monate hinweg schlecht schläft, sollte man sich fachärztlich beraten lassen. Dann wird abgeklärt, ob man Einschlaf- oder Durchschlafschwierigkeiten hat und was einem den Schlaf raubt.
Kann man mit der richtigen Ernährung das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, senken?
Dr. Christian Wenter: Vegan, mediterran, Mischkost … Die Wissenschaft gibt darauf keine eindeutige Antwort. Auch geografisch sind in puncto Ernährung keine Unterschiede zu erkennen. Demenzerkrankungen nehmen dort zu, wo die Bevölkerung aufgrund der steigenden Lebensqualität und -erwartung immer älter wird – etwa Afrika, China und Indien.
Was ist an der Aussage dran, dass bei zweisprachigen Menschen die Demenz später ausbricht?
Dr. Christian Wenter: Mittlerweile mehren sich die wissenschaftlichen Hinweise: Wer zwei und mehr Sprachen spricht, wie etwa in Kanada, Australien oder Südtirol, erkrankt bis zu fünf Jahre später an Alzheimer. Wer im Alltag zweisprachig lebt oder eine neue Sprache lernt, hält sein Hirn fit. Wird es stimuliert, bildet es auch noch im hohen Alter neue Nervenzellen aus. Forscher haben in den USA und in Kanada das Krankheitsbild ein- und zweisprachiger Alzheimer-Patienten miteinander verglichen; in Südtirol hat die Sprachwissenschaftlerin Rita Franceschini, Leiterin des Kompetenzzentrums Sprachen an der Freien Universität Bozen, eine interessante Studie veröffentlicht.
Das gute Gläschen Wein zum Mittagessen – muss man im Sinne der Alzheimer-Prävention auch darauf verzichten?
Dr. Christian Wenter: Alkohol ist ein Zellgift und schädigt die Nervenzellen direkt neurotoxisch. Unbedenkliche Mengen gibt es also nicht. Es muss also jede und jeder für sich selbst entscheiden, ob man Alkohol zu sich nimmt. Alternativen sind alkoholfreier Wein und alkoholfreies Bier – ein günstiger Trend.
Mit welchen Anliegen kann man sich an den Verein „Alzheimer Südtirol Alto Adige“ wenden?
Edith Moroder, Vizepräsidentin von „Alzheimer Südtirol Alto Adige“ und Autorin des Buches „Im Treibsand – Leben mit Demenz“: Nach der Diagnose Alzheimer benötigen die Betroffenen und ihre Angehörigen vor allem Informationen und Erfahrungsberichte über die Krankheiten. Diese kann der Verein vermitteln. Als „Caregiver“ (zu Deutsch: Pflegende oder Pflegender, Anm.d.Red.) wird man jeden Tag selbst etwas Neues dazu lernen. Wie man Symptome und Situationen einschätzt und damit umgeht und wie sich das Leben eines Pflegenden verändert, ist in Selbsthilfegruppen zu erfahren. Und ganz wichtig: Einen Alzheimer-Kranken zu versorgen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe und kann über Jahre hinweg dauern. Pflegende vergessen dabei oft selbst ihre Gesundheit. Darum benötigen auch „Caregiver“ Hilfe und müssen betreut werden. Und die Betreuer müssen sich selbst kleine Freiräume im Alltag schaffen.
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Alzheimer vorbeugen – Geht das und wenn ja, wie?Dr. Christian WenterEine Studie zeigt, dass die Progression einer Alzheimer-bedingten Gedächtnisstörung bei bis zu 40% der Fälle durch Prävention verhindert oder verlangsamt werden kann. Faktoren, die das Alzheimer-Risiko erhöhen bzw. senken, entfalten ihre Wirkung früh und wirken über den gesamten Lebensverlauf weiter. Deshalb ist es wichtig, Risikopersonen mit individuellen Interventionen zur Förderung ihrer Allgemein- und Gehirngesundheit zu unterstützen.
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Die Hospitalisierung von Demenz-Patienten: auf dem Weg hin zu einer “Dementia friendly”-KulturMiriam PivaWas bedeutet der Begriff “Pflege“ bei einer älteren Person, die wegen Demenz im Krankenhaus ist? Welches ist der richtige Zugang zu diesem „unheilbaren“ Zustand für das Personal aus Ärzteschaft, Pflege, Psychologie oder jede andere medizinische Fachperson im Krankenhaus?
Mit
Primar der Geriatrie am Krankenhaus Meran
- Medizinstudium an der Universität Innsbruck
- Ausbildung zum Facharzt für Geriatrie und Gerontologie an der Universität Pavia
- 1989-2002 Arzt für Geriatrie am Regionalkrankenhaus Bozen
- seit 2002 Primar der Abteilung Geriatrie am Krankenhaus Meran
Pflegekoordinatorin der Geriatrie am Krankenhaus Bozen
- Hochschulabschluss in Krankenpflege an der Universität Verona – Ausbildungszentrum Bozen
- 2012 Master in Management und Koordination für Gesundheitsberufe an der Universität Verona – Ausbildungszentrum Bozen
- Seit 2003 Krankenpflegerin in der Abteilung Kardiologie – Intensivstation – Katheterlabor am Krankenhaus Bozen
- 2015-2021 Klinische Tutorin für den Studiengang Krankenpflege an der Universität Verona – Ausbildungszentrum Bozen
- seit 2021 Koordinatorin der Memory Clinic am Krankenhaus Bozen
- seit 2022 Pflegekoordinatorin an der Abteilung Geriatrie am Krankenhaus Bozen
Vizepräsidentin „Alzheimer Südtirol Alto Adige“ und Autorin des Buches „Im Treibsand – Leben mit Demenz“ (2006)