Gezielt Skiverletzungen vermeiden
Autsch! Von „Sünden“ und Fehltritten auf der Piste
Wenn auf Südtirols Pisten Schnee liegt, haben nicht nur Skispaß und Snowboard-Vergnügen Hochsaison, sondern auch die Notaufnahmen und Unfallchirurgen des Landes. Laut dem Landestatistikinstitut (Astat) ereignen sich jährlich etwa 9000 Ski-, Rodel- und Snowboard-Unfälle; mehr als Drei Viertel davon sind selbstverursacht und erfolgen durch Stürze. Die Hälfte der Verunglückten landet im Krankenhaus. Welche Risiken der Gesellschaftssport Skifahren birgt, wie gezieltes Training für mehr Sicherheit sorgt und welche die häufigsten (Gesundheits-)Fallen auf den Pisten sind – Um diese Themen drehte sich der Vortrag „Fit auf die Piste“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Forum Gesundheit Südtirol“ des Südtiroler Gesundheitsbetriebs im Veranstaltungszentrum Nobis in Bruneck.
Eines gleich vorweg: Skifahren, Rodeln, Snowboarden, Freeskiing und Langlaufen wird mit jeder Saison sicherer. Die Unfallstatistiken belegen, dass sich Jahr für Jahr weniger Wintersportler verletzen. Pistenregeln, bessere Ausrüstung und Bewusstseinsbildung zeigen Wirkung, seit den 1970-er Jahren haben die Skiunfälle um knapp 40 Prozent abgenommen. Wer sich dennoch verletzt, verletzt sich schwer. Es dominiert nicht mehr die klassische „Skihaxe“ (Drehbruch des Unterschenkels), Spitzenreiter sind nun vielmehr Knieverletzungen (vor allem bei Frauen) und Verletzungen im Hals-Kopf-Schulterbereich. Dahinter folgen Verletzungen des Rumpfs, der Hüften mit den Oberschenkeln sowie der Unterschenkel.
Nicht (mehr) fit für die Piste
Statistisch gesehen, ereignen sich die meisten Unfälle am Beginn des Skitages oder am Ende – wenn die Muskeln noch nicht aufgewärmt sind oder wenn man müde ist, Kraft und Konzentration nachlassen, die Muskeln nicht mehr so richtig wollen. Am öftesten sind Teenager und Personen zwischen 51 und 60 Jahren in Unfälle verwickelt.
Also, was tun, um diese Unfälle zu vermeiden? Dr. Martin Köllensperger, Direktor der Struktur „Orthopädische und traumatologische Chirurgie“ am Landeskrankenhaus Bozen, ist sich sicher: sich körperlich auf die Skisaison vorbereiten. „Und dies nicht erst kurz vor oder im Laufe der Saison, sondern das ganze Jahr hindurch – unter anderem auch durch andere Sportarten wie Radfahren, Bergwandern, Laufen“, sagte der Mediziner. „Meine wichtigste Botschaft lautet: Wer ständig am persönlichen körperlichen Limit fährt, wird sich verletzten. Durch gezieltes Training kann das Limit erweitert werden.“
Die Königsdisziplin: Kniebeuge
Das Training, das alle motorischen Grundfähigkeiten Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Schnelligkeit und Koordination umfassen muss, sollte alle Bewegungen eines Skitages beinhalten. Die Experten-Empfehlung: „Zur Verbesserung der ,Core Stability‘ (Stabilität der Bauch-, Rücken- und Gesäßmuskulatur, Anm. d. Red.), der Balance und der Flexibilität eignen sich unter anderem Übungen mit Planks, Abroller, Balanceboard, Medizinball, Battle ropes und Kettlebell ebenso Stretching, Yoga und Pilates“, so Dr. Köllensperger. Die Königsdisziplin beim Krafttraining ist hingegen die Kniebeuge. Sie trainiert eine große Anzahl von Muskeln durch eine Bewegung, die sowohl für den Alltag als auch für den Sport nützlich ist. Übungen für die Beweglichkeit runden das Training ab; ambitionierte Skifahrer fügen noch Übungen für die Sprungkraft und explosives Training hinzu. „Welche Komponente es noch zu trainieren gilt, muss jeder für sich selbst entscheiden“, meinte der Spezialist.
Eigenverantwortung – das Stichwort für Dr. Stefan Resnyak, Primar des landesweiten Dienstes für Sportmedizin: „Skifahren ist ein Gesellschaftssport, der häufig die risikoreiche Mischung Sport, Gaudi auf der Hütte und Alkohol vereint. Bei der Abfahrt in der Dunkelheit kommt es dann zu Unfällen.“ Die meisten Unfälle, so der Experte, würden sich übrigens auf sehr leichten und mittelschweren Pisten ereignen, auf denen viele Skifahrer unterwegs sind. Weniger auf den „schwarzen“ Pisten. Und: 10 Prozent der Verunglückten würden keinen Skihelm tragen.
In den Mittelpunkt seines unkonventionellen Vortrages „Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd – oder doch?“ stellte Dr. Resnyak 10 sogenannte „Sünden“ vor, die man und frau auf der Piste begehen können.
Sünde Nummer 1: Mangelnde Disziplin
„Wo viele Menschen unterwegs sind, müssen Verhaltensregeln eingehalten werden – auf den Pisten sind dies die FIS-Verhaltensregeln, die eingehalten werden müssen“, erklärte Dr. Resnyak. „Sie mahnen unter anderem zur Vorsicht und Rücksicht auf andere, zur Anpassung der Geschwindigkeit und des Fahrstils an die Situation und die Besucherzahl auf der Piste, regelt das Überholen, den Fahrspurwechsel, den Ein- und Ausstieg.“
Sünde Nummer 2: Mangelnde Kondition
„Die körperliche Fitness spielt eine zentrale Rolle in der Prävention von Unfällen, ein Grundprogramm an sportlicher Vorbereitung sollte selbstverständlich sein“, so Dr. Resnyak und bekräftigte, dass alle motorischen Grundfähigkeiten trainiert werden müssen.
Sünde Nummer 3: Fehlstart
Das Sturzrisiko steigt mit kalten Muskeln. Dr. Resnyak: „Aufwärmübungen machen Muskeln geschmeidiger, das Nervensystem wird durch Aufwärmübungen von dem Start auf ,Betriebstemperatur‘ gebracht, der Stoffwechsel wird aktiviert und die mentale Aufmerksamkeit verbessert. 10 bis 20 Minuten reichen aus.“
Sünde Nummer 4: Die Natur unterschätzen
Der Fahrstil ist an die Wetterbedingungen, Temperaturen, Schneeverhältnisse und Gelände anzupassen.
Sünde Nummer 5: Selbstüberschätzung
Die meisten Unfälle ereignen sich am Nachmittag, wenn Kraft und Kondition nachlassen. Tipp: Pausen einlegen. Das persönliche Können kann hingegen in Skikursen verbessert werden (Resnyak: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“), Tipps und Hinweise von anderen Skifahrern können ebenso zur Verbesserung der eigenen Technik beitragen.
Sünde Nummer 6: Alkohol
Am 1. Jänner 2022 ist das neue italienische Pisten-Sicherheitsgesetz in Kraft getreten, das den Genuss von Alkohol nur noch in eingeschränktem Maß erlaubt; die Grenzwerte orientieren sich an denen im Straßenverkehr: Mit mehr als 0,5 Promille auf den Pisten unterwegs zu sein, wird mit einer Geldbuße geahndet (250 bis 1000 Euro). Ab einem Alkoholspiegel von 0,8 Promille handelt es sich um eine Straftat mit entsprechenden Konsequenzen.
Sünde Nummer 7: Falsche Ausrüstung
Dr. Resnyaks Appell: „Spendieren Sie Geld in Ihre Skibekleidung und Ausrüstung. Beides kann vor Verletzungen schützen.“
Sünde Nummer 8: Auf den Helm verzichten
Der Großteil der Kopfverletzungen wird durch das Tragen von Helmen vermieden. Skifahrer und Snowboarder hatten in den vergangenen Jahren das Einsehen. „Anders sieht es beim Rodeln aus, leider“, schränkte der Experte ein.
Sünde Nummer 9: Skifahren um jeden Preis
Endlose Pkw-Staus in Richtung Winterskigebiete, massive Eingriffe in die Natur, Künstliche Beschneiung … „Muss das sein?“, fragte Resnyak.
Sünde Nummer 10: Vergessen, warum Skifahren so gesund ist
Skifahren, erinnerte der Sportmediziner, ist eine komplexe Aktivität, die unter anderem das Herz-Kreislaufsystem stärkt, die kognitiven Fähigkeiten verbessert, die körperliche Fitness verbessert, soziale Kontakte knüpft und glücklich macht.
Bei Expertinnen und Experten nachgefragt
Im Anschluss an die Referate der Experten konnten die Zuhörerinnen und Zuhörer Fragen stellen. Zu den beiden Medizinern gesellte sich die ehemalige Skirennläuferin Verena Stuffer. Folgende Fragen wurden zum Thema „Fit auf die Piste“ gestellt:
Welche Trainingsmethode haben Sie aus Ihrer aktiven Zeit als Skirennläuferin mit in den Alltag genommen?
Verena Stuffer: Ich stehe auch weiterhin auf den Skiern und halte mich natürlich fit. Mein Tipp für Nicht-Profis: Mit High Intensity Training (Hochintensives Intervalltraining, HIIT) kann man sich auch zuhause hervorragend auf die Wintersaison vorbereiten. Im Internet gibt es die Anleitung für diese moderne Methode, bei der sich kurze Belastungsphasen mit kurzen Erholungsphasen abwechseln.
Auf den Skipisten werden oft die Verhaltensregeln nicht eingehalten. Vor allem Touristen scheren manchmal – im wahrsten Sinne des Wortes – aus. Siehe Helmtragen. Wie kann man diese Regeln Ihrer Meinung nach besser durchsetzen?
Dr. Stefan Resnyak: Vorausgeschickt: Auf den Pisten herrschen Verhaltensregeln, und diese gilt es einzuhalten. Aber: Skifahren und Snowboarden sollten nicht überreglementiert und durch Polizeikräfte kontrolliert werden. Hier ist vielmehr die Eigenverantwortung eines jeden Wintersportlers gefragt. Daher ist Aufklärungsarbeit – vor allem, was Gäste betrifft – äußerst wichtig. Hotels und Skidestinationen müssen Informationen geben und Urlauber für mehr Sicherheit auf der Piste sensibilisieren.
Wie hoch ist der Anteil der verunfallten Urlauber in Südtirol?
Dr. Martin Köllensperger: Der Anteil der Touristen in den Nothilfestationen der Krankenhäuser im Land ist beeindruckend hoch. Chirurgisch hingegen werden die Touristen zumeist in ihrer Heimat versorgt. Viele von ihnen sind diesbezüglich ausreichend versichert.
Wie leiste ich bei einem Unfall auf der Piste richtig Erste Hilfe?
Dr. Martin Köllensperger: Oberste Regel: Man darf sich nicht selbst in Gefahr bringen. Man sollte die Unfallstelle und den Verunglückten sichern, etwa mit den Skistöcken oder dem Rucksack, und die Rettungskräfte rufen. Wenn man eine Rettungsdecke mitführt, kann man dem Verletzten diese anbieten.
Dr. Stefan Resnyak: Wer sichert und die Rettung ruft, hat alles richtig gemacht. So steht es auch in den Pistenregeln.
Dr. Martin Köllensperger: Und: Man sollte dem Verunglückten weder etwas zu essen noch zu trinken reichen – auch keinen warmen Tee. Muss der Patient schnell operiert werden, so muss er nüchtern sein.
Was halten Sie von Rückenprotektoren?
Dr. Martin Köllensperger: Rückenprotektoren stellen keinen Freifahrtschein dar. Denn sie dämpfen nur direkte Schläge auf den Rücken, das heißt, sie schützen bei einem direkten Aufprall. Bei den meisten Verletzungen beim Skifahren und Snowboarden handelt es sich hingegen um Zusammenstauchen der Wirbelsäule. In solchen Fällen schützen Rückenprotektoren nicht.
Ich hatte einen Kreuzbandriss, die Verletzung ist verheilt, das Knie fühlt sich stabil an. Darf auch wieder Skifahren?
Dr. Martin Köllensperger: Wenn das Knie – subjektiv betrachtet – stabil ist, auch bei den Bewegungen auf der Piste, dann darf man auch mit gerissenem Kreuzband zum Skifahren. Wichtig ist allerdings der Aufbau der Kniemuskulatur.
Die Statistik zeigt, dass die Unfälle in den vergangenen Jahrzehnten um bis zu 30 Prozent weniger geworden sind. Wie sieht es aber mit der Komplexität der Verletzungen aus?
Dr. Martin Köllensperger: Erziehung, Pistenregeln, Bewusstseinsbildung und besseres Material haben die Unfälle deutlich verringert. Vor allem Kopfverletzungen haben dank der Helme abgenommen. Die Anzahl der Knochenbrüche, vor allem der Trümmerbrüche etwa am Schienbein oder der Schulter, schnellte hingegen hoch. Dies hängt mit der höheren Geschwindigkeit zusammen.
Dr. Stefan Resnyak: Richtig, was durch besseres Material an Sicherheit gewonnen wird, wird durch die hohe Geschwindigkeit aufgehoben. Gefährdet sind vor allem Anfänger.
Wie haben sich die Behandlungsmethoden verändert?
Dr. Martin Köllensperger: Heutzutage wird viel mehr operiert als früher. Zum einem, weil die OP-Techniken viel mehr Eingriffe zulassen, die vor Jahrzehnten noch nicht möglich waren. Zum anderen, weil der Anspruch der Patienten höher ist. Sie wollen mindestens so gesund sein wie vor dem Unfall.
Was ist in der Vorbereitung auf die Skisaison ein absolutes No-Go?
Dr. Stefan Resnyak und Dr. Martin Köllensperger: Sich nur auf eine Komponente des Trainings zu konzentrieren. Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Sprungkraft, Koordination … müssen gemeinsam trainiert werden, und dies das ganze Jahr über. Dies erreicht man durch Radfahren, Tanzen, Berggehen und Laufen.
Bitte noch einen persönlichen Tipp, um den „inneren Schweinehund“ zu überwinden.
Verena Stuffer: Sich das ganze Jahr über fit halten, nicht nur kurz vor der Ski- oder Snowboardsaison.
Dr. Stefan Resnyak: Man sollte sich nicht fit halten, weil man muss. Sondern, weil man von der Bewegung begeistert ist.
Dr. Martin Köllensperger: Man sollte eine Trainingsform finden, die einem Spaß macht. Zum Rest muss man sich zwingen.
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Auf der Alm, da gibt's koa Sünd - oder doch?Dr. Stefan ResnyakIn einem nicht ganz konventionellen Vortrag werden die häufigsten Gesundheitsfallen und -risiken im winterlichen alpinen Gelände beleuchtet und Tipps zu deren Vorbeugung und Vermeidung gegeben, damit Sie sicher und unfallfrei durch den Skiwinter kommen.
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Skiunfälle – die häufigsten VerletzungenDr. Martin KöllenspergerWelche Verletzungen kommen beim Skifahren am häufigsten vor und warum? Wie verlaufen die Verletzungsmechanismen, was sind ihre Folgen und wie kann man ihnen vorbeugen?
Der Vortrag klärt auch über die Notwendigkeit der korrekten Einstellung der Skibindung auf.
Mit
Primar des landesweiten Dienstes für Sportmedizin
- Medizinstudium an der Universität Innsbruck
- Ausbildung zum Facharzt für Sportmedizin an der Università degli Studi di Verona
- verschiedene Zusatz-Fachausbildungen
- seit 1994 im Bereich Sportmedizin des Südtiroler Sanitätsbetriebes tätig
- seit 2016 Primar des betrieblichen Dienstes für Sportmedizin des Südtiroler Sanitätsbetriebes
Orthopäde am Landeskrankenhaus Bozen
- Medizinstudium und Erwerb des Wissenschaftsdoktorats an der Universität Innsbruck
- seit 2009 leitender Arzt für Orthopädie und Traumatologie am Landeskrankenhaus Bozen
- Ausbildung zum Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie
- seit 2018 Stellvertreter des geschäftsführenden Primars für Orthopädie und Traumotologie am Landeskrankenhaus Bozen
- seit 2020 Direktor der einfachen Struktur „Orthopädische und traumatologische Chirurgie“ am Landeskrankenhaus Bozen
ehemalige Skirennläuferin
- von 2002 bis 2018 Mitglied der italienischen Skinationalmannschaft
- Disziplinen: Abfahrt und Super G
- Teilnahme an drei Weltmeisterschaften
- Teilnahme an den Olympischen Spielen in Sotschi 2014
- bestes Weltcupergebnis: 4. Platz im Super G in Cortina 2014